Die Wohngemeinschaft

Kaninchen Karin, Hamster Harald und der fast blinde Maulwurf Pauli.

Auf einer Wiese neben einem Getreideacker lebt in seinem unterirdischen Bau das Kaninchen Karin. Von Zeit zu Zeit polstert Karin ihren Wohnraum mit neuen trockenen Grashalmen aus. Es wirkt wie ein Teppichboden, warm und behaglich. Diese Höhle kann auch immer wieder verlängert werden – zum Beispiel, wenn sich die Familie vergrößert.
Eines Tages lag Karin ganz entspannt in ihrem Kuschelnest, als plötzlich an der einen Wohnungswand ein Kratzgeräusch zu hören war. Karin dachte: „Na, was kommt denn da?“ Sie drehte sich in Blickrichtung zum Geräusch, um die Stelle zu beobachten.

Plötzlich krümelte Erde aus der Wand, wo das Geräusch herkam. „Nun bin ich aber gespannt“, sagte sie und blickte gebannt auf die Stelle, wo langsam ein Loch zu sehen war.
Dann schaute sie in zwei schwarze Knopfaugen mit einer Stupsnase in der Mitte.
„Hallo“, sagte die Stupsnase zum Kaninchen, „was machst du denn hier in meiner Wohnröhre?“
Ganz schön überrascht schaute Karin die Stupsnase an und sagte: „Deine Wohnröhre? – Du hast doch ein Loch in meine Wohnzimmerwand gebohrt. Du bist in meiner Wohnröhre, nicht ich in deiner – und überhaupt, wer bist du eigentlich?“
„Ich bin Harald Hamster; ich wohne hier unter dem ganzen Feld, das der Bauer immer wieder mit leckerem Futter bestellt.“
„Ja, schön“, sagte Karin – aber hier ist meine Wohnung und nicht deine Wohnröhre.“ – „Stell dich nicht so an“, sagte der Hamster, „schließlich leben wir alle hier von dem Acker, da muss man schon mal etwas mehr zusammenrücken. Und wenn der Bauer da oben Möhren anbaut, dann holst du dir ja auch da deine Vorräte.“
„Stimmt“, sagte Karin. „Na gut, wenn du dich nicht allzu breit machst und nicht an meine Vorräte gehst, soll es mir recht ein. Komm rein – ich lade dich zum Möhrchenknabbern ein.“ Das ließ sich Harald Hamster nicht zweimal sagen und hüpfte in den Kaninchenbau, obwohl er eigentlich gar keine Möhrchen mag. „Ach, hast du das hier kuschelig – da kann man sich richtig wohl fühlen.“ Karin, das Kaninchen, dachte: „Nun glaube ich, der geht gar nicht mehr weg, der bleibt – na toll!“
Karin holte einige Stücke Möhrchen aus ihrem Vorrat und bot sie ihrem Gast an. Der steckte sich gleich fünf, sechs Stücke in den Mund, und dann war der Teller leer. Karin riss ihre Augen ganz entsetzt auf und konnte es gar nicht glauben. „Na so was – hast du das schon alles gegessen?“, fragte sie. „Nein, nein, wir Hamster stecken unsere Vorräte in die Backentaschen und haben so die Pfoten frei, wenn wir wieder eine neue Röhre graben. Wir hamstern halt, das kennt doch jeder.“
„Nein“, sagte Karin, „das wusste ich nicht.“

Nun kam Harald Hamster auf eine Idee. „Was hältst du davon, wenn wir hier zusammenwohnen, so wie eine Wohngemeinschaft? Ich bin dauernd unterwegs, weil ich immer neue Röhren baue und meinen Lebensraum vergrößere.“
„Na, dann grabe ich besser noch einen zweiten Raum, in dem du dann wohnen kannst“, sagte Karin.
Gerade als sie sich darauf geeinigt hatten, war wieder so ein Kratzgeräusch an der Decke der Wohnung von Karin zu hören.
Harald der Hamster und Karin das Kaninchen schauten erschreckt, aber gespannt nach oben, wo das Geräusch herkam. Dann kam eine Pfote mit dicken Krallen durch die Decke und gleich noch eine spitze Nase mit Schnurrbarthaaren – aber keine Knopfaugen wie vorher bei Harald Hamster, nein, das, was da in den Raum schaute, hatte die Augen zugekniffen. Dann kam noch die zweite Pfote mit großen Krallen durch die Decke. „Oh, hoppla, wo bin ich denn hier herausgekommen?“, sagte die spitze Nase in dem Loch an der Decke. „Hallo, ist da jemand“? – „Ja“, sagte Karin, „du bist hier in meiner Wohnung herausgekommen.

Nun komm erst mal da herunter, damit wir uns kennenlernen.“ Da plumpste ein dunkelgraues Fellknäuel mit großen Händen von der Decke ins Grasstroh von Karins Wohnzimmer. „Hallo, ich bin Pauli der Maulwurf“, sagte das Fellknäuel. „Ja, Hallo“, sagte Karin, „ich bin Karin Kaninchen und habe hier meine Wohnung, und im Moment glaube ich, es geht hier zu wie auf einem Bahnhof. Kommt denn da noch jemand hinter dir oder bist du alleine?“ – „Das weiß ich nicht, ich bin ja fast blind, da sehe ich nicht ob noch jemand hinter mir ist – aber meistens bin ich alleine unterwegs. Schön kuschelig hast du es hier! Na, da ist doch noch jemand im Raum, das spüren meine Schnurrbarthaare.“ – „Ja“, sagte Harald Hamster, „ich bin ein Hamster, der gerade bei Karin eingezogen ist – wir haben uns auf eine Wohngemeinschaft geeinigt.“ – „Das ist ja toll!“, sagte Pauli. „Das würde ich auch gerne; ich bin ein ganz ruhiger Mitbewohner, wenn ich bei euch bleiben darf. Tagsüber schlafe ich und nachts buddle ich mich durch die Erde und schaue oben nach, ob der Mond noch da ist.“

„Also, wir schlafen nachts, und wenn du dann unterwegs bist, störst du uns gar nicht; und wenn du morgens zurückkommst, machen wir uns auf den Weg“, sagte Karin. – „Das sehe ich genauso“, sagte Harald Hamster. Karin fragte dann den Pauli, ob er denn auch so gerne Möhren mag. „Nö“, sagte Pauli, „die mag ich überhaupt nicht. Ich such nach Engerlingen, Käfern und Würmern, aber nicht nach Wurzeln. Und was suchst du so zum Essen?“, fragte Pauli den Harald. – „Ich suche Körner wie Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Eicheln, Bucheckern und Nüsse und so was“, sagte Harald Hamster. – „Ja, gut – so futtern wir uns nicht gegenseitig die Essensvorräte weg“, sagte Pauli. – „So – hätten wir das geklärt. Nur in meinem Bett schlafe ich alleine, da lasse ich nicht mit mir handeln“, sagte Karin. – „Da bin ich auch ganz deiner Meinung“, sagte Harald Hamster, „ich schlafe in einem Wollknäuel aus meinen eigenen Haaren.“ – „Und ich brauche nur eine kleine Erdmulde, in der ich mich einkuscheln kann – ich brauche den Duft der Erde“, sagte Pauli.
„Gut, dann hätten wir das ja auch geklärt“, sagte Karin.

Plötzlich hüpfte der Hamster hoch und sagt: „Ach, ich freu mich so, und deswegen hole ich gleich mal mein Hamsterrad“, und lief aus dem großen Kaninchenbau heraus, bevor auch nur einer etwas dazu sagen konnte. Pauli meinte: „Will der etwa hier unten mit seinem Rad durch deine Wohnung fahren?“ – „Warten wir doch mal ab, was der hier anschleppt“, sagte Karin und schaute in Richtung Eingang, ob sie schon was sehen konnte. Aber nichts. Pauli sagte: „Ich mach mir schon mal wieder einen neuen Ausgang, denn wenn mir das gleich zu hektisch wird, mach ich ganz schnell wieder einen Abflug.“ – „Nun warte doch mal“, sagte Karin, „ein Fahrrad kann ich mir hier unten auch nicht vorstellen; er sprach doch von einem Hamsterrad.“

Da hörte man aus der Richtung vom Eingang ein quietschendes Geräusch. Pauli rief: „Ich sehe nichts – was ist da los, was kommt da?“ – „Warte doch mal“, sagte Karin, „ich sehe ja auch noch nichts.“ Das Geräusch wurde immer lauter, und dann war es da: Harald Hamster mit seinem Hamsterrad. Nun konnten alle sehen, was das war.
Ja, klar, ein Hamsterrad – eine aus Draht bestehende Trommel, in der der Hamster den ganzen lieben langen Tag herumlaufen konnte, und das, ohne müde zu werden. Karin war entsetzt. „Glaubst du denn, wir sitzen hier mit dir in einem Raum und schauen dir beim Hamster-Laufrad-Rennen zu? Das lässt uns dann keine Ruhe, das Quietschen nervt auch ganz schnell und das geht gar nicht.“ Pauli stimmte mit Karin darin überein. „Das geht gar nicht“, sagte er.

Harald der Hamster sagte: „Nun wartet doch mal! Ihr habt ja noch gar nicht mal probiert, wie viel Freude das macht, und Kondition bringt es auch.“ – „Na gut“, sagte Karin, „wenn ich da reinpasse, will ich gerne mal probieren.“ Und Karin kletterte in das Hamsterrad. Die langen Hinterbeine hoben den Hintern so hoch, dass der kleine Puschel Schwanz im Gestänge des Hamsterrades oben stecken blieb. Die Vorderbeine waren so kurz, dass die Nase vorne über das Gestänge rutschte. Es sah so aus, als wäre das kein Gerät für Kaninchen. Karin sagte: „Also nein, nichts für mich – versuch du es mal, Pauli!“ Und Pauli kletterte in das Hamsterrad und versuchte loszulaufen. Aber die langen Krallen, mit denen er sich durch die Erde gräbt, verklemmten sich zwischen den Laufradstangen, und die Hinterbeine waren zu kurz, sodass sie nicht an die Lauffläche rankamen. Es ging nicht, und er war eigentlich ganz traurig, denn ein wenig Abwechslung in seinem Buddelleben wäre ihm ganz recht gewesen.

„Nee, nichts für einen Maulwurf und auch nichts für ein Kaninchen“, sagte Pauli. Da stimmte Karin mit ihm überein. „Also, was machen wir jetzt mit deinem Hamsterrad?“, fragte Karin. – „Ich habe da eine Idee“, sagte Pauli, „hier unten ist es ja so dunkel, und wir könnten aus dem Hamsterrad eine Lampe basteln. Wir spannen ein paar große Rhabarber-Blätter drumherum und hängen die Lampe dann an die Decke.“ Das Kaninchen wollte sich mit diesem Gedanken gar nicht anfreunden und meinte: „Und womit bringen wir diese Lampe zum Leuchten? Hier unten habe ich doch keinen Strom.“

„Nein das wird nichts – eigentlich wolltet ihr nur bei mir hier wohnen, weil es so gemütlich bei mir ist, und jetzt soll es hier zum Kirmesplatz werden. Nein, Wohngemeinschaft – das wird nichts. Seid mir nicht böse, aber ich möchte lieber alleine hier unten leben, und es ist besser, wenn jeder wieder in seine eigene Höhle klettert und dort für sich lebt. Ihr könnt ja von Zeit zu Zeit mal zu Besuch kommen, aber immer hier wohnen: nein.“ Harald und Pauli machten ein langes Gesicht und waren sauer, aber sie mussten den Wunsch von Karin respektieren; es war ja ihre Wohnung, und die beiden waren nur zufällig dort gelandet

„Okay“, sagte der Hamster, „dann roll ich mein Hamsterrad wieder nach draußen und bringe es wieder in meinen Hamsterbau. Und, weißt du, Karin, dann bleib ich auch gleich wieder bei mir zu Hause. Aber du kannst mir helfen, das Rad aus deinem Bau zu rollen, hier bergauf.“ – „Das mach ich gerne, wenn ich mir dadurch unsere Freundschaft erhalten kann“, sagte Karin.
Pauli wollte dann auch nicht mehr zur Wohngemeinschaft gehören und verabschiedete sich von dem Hamster und dem Kaninchen, drehte sich um und fing gleich in einer Ecke im Kaninchenbau an zu buddeln. Ein kleiner Dreckhaufen lag jetzt dort, wo gerade noch der Maulwurf stand – und schon war er weg.

Karin schob nun mit Harald das Hamsterrad aus dem Kaninchenbau an die Oberfläche, und oben konnte Harald in dem Rad wieder alleine in seinen Heimatbau zurückrollen. Karin war erleichtert, dass die beiden jetzt doch nicht bei ihr einzogen und sie wieder alleine leben konnte. So eine Wohngemeinschaft ist dann doch nichts für Tiere, die eigentlich alleine in eigenen Wohnröhren leben.
Sie ging zurück in ihren Bau und räumte erst mal auf, was die Besucher so hinterlassen hatten. Da war der Erdhaufen an der Wand, aus dem der Hamster gekommen war, und der Erdhaufen, der von der Decke gefallen war, als der Maulwurf von oben erschienen war, und jetzt noch der Erdhaufen, den Pauli hinterlassen hatte, als er wieder abgereist war. Das schaffte sie alles nach draußen und legte neues trockenes Gras aus. Nun musste sie noch die Löcher von den beiden Besuchern schließen, denn dadurch zog es mächtig, und das war dann nicht mehr so gemütlich. Sie stopfte von ihrem Grasstroh in die Öffnungen und dann noch einen Überzug aus Lehm, und dann war wieder Ruhe, es zog nicht mehr. Alles war wieder wie vorher.